Ronald D. Gerste 

Jacques Joseph – Zum 150. Geburtstag
des Pioniers der Plastischen Chirurgie

Der kleine Patient war hochzufrieden, seine Mutter glücklich und der Operateur sah sich in seinem Vorgehen bestätigt. Die Mutter und ihr zehnjähriger Sohn waren einige Wochen zuvor in seine Sprechstunde gekommen, da sie glaubte, ein Orthopäde könne bei dem Problem ihres Jungen am ehesten helfen – und in einer orthopädischen Klinik arbeitete der Chirurg damals. Das Problem war auf den ersten Blick ein kosmetisches, aber natürlich auch ein soziales: Die Ohren des Jungen standen erschreckend weit ab. Und dies hatte gravierende Konsequenzen: In der Schule wurde er gehänselt; die Seelenqual, die dem Buben von seinen Klassenkameraden zugefügt wurde, ging so weit, dass er nicht mehr zum Unterricht gehen wollte.

Entlassung als „Belohnung“ für den Operationserfolg

Der Chirurg konzipierte einen für sein Tätigkeitsfeld ungewohnten Eingriff, über den er mehrere Wochen später auf der Sitzung der Berliner Klinischen Gesellschaft vor der interessiert zuhörenden Kollegenschaft referierte und seine Ausführungen mit einer technologischen Neuheit begleitete, nämlich an die Wand projizierten Lichtbildern zum Vergleich des prä- mit dem postoperativen Befund. Er berichtete dabei: „Zum Zwecke des Anliegendmachens habe ich mich darauf beschränkt, entsprechende Stücke aus der Haut allein und zwar aus der Furche zwischen Ohrmuschel und behaarter Kopfhaut zu excidiren und dann die Wundränder miteinander zu vereinigen. Das Zweite war die Verkleinerung der Ohren. Eine solche ist meines Wissens bisher noch niemals gemacht worden; wenigstens habe ich in der Literatur nichts darüber gefunden. Ich habe dieselbe auf folgende Weise ausgeführt: Aus der oberen Hälfte der Ohrmuschel habe ich beiderseits ein keilförmiges Stück mitsammt dem dazugehörigen Knorpel entfernt, und zwar ging ich durch den Helix, die Fossa scaphoidea, den Antihelix bis tief in die Concha hinein und dann unter einem Winkel von 50 bis 60 Grad in umgekehrter Reihenfolge zurück. Alsdann wurden die freien Wundränder mit einander vereinigt. Die Verkürzung der Ohren beträgt ungefähr eineinhalb Centimeter.“

Als dem frischoperierten kleinen Patienten nach dem Eingriff der Verband abgenommen wurde, war seine Mutter den Tränen nahe und der Junge vermutlich auch, als er sich zum ersten Mal im Spiegel mit den „neuen“ Ohren erblickte. Eine Emotion dürfte auch den Operateur kurzzeitig überkommen haben – denn als Folge der überaus gelungenen rekonstruktiven Intervention wurde er entlassen.

Das Leben des vor 150 Jahren im damaligen Ostpreußen
geborenen Jacques Joseph vollzog sich in einer großen Epoche der Chirurgie

Was wie ein Karriereknick aussah, war für die Entwicklung der Chirurgie und vor allem der plastischen Chirurgie ein Glücksfall. Denn die Wut seines Chefs, Professor Julius Wolff, über die Eigenmächtigkeit des Assistenten führte dazu, dass Jacques Joseph, damals 31 Jahre alt, nicht weiter den Weg der Orthopädie beschritt, sondern jenen der plastischen Chirurgie ging. Er gilt als einer der großen Wegbereiter dieser Disziplin; indes waren es nicht die Ohren wie bei seinem kleinen Patienten, sondern ein anderes markantes Merkmal der menschlichen Physiognomie, bei deren Wiederherstellung und Umkonfigurierung er es zur Meisterschaft bracht: Die Nase. So ging er in die zeitgenössische Laienpublizistik gelegentlich als „Nasen-Joseph“ ein – ein Beiname, der sich bis heute gehalten hat, wie ein Blick auf Wikipedia beweist.

Das Leben des vor 150 Jahren, am 6. September 1865, in Königsberg im damaligen Ostpreußen geborenen Jacques Joseph vollzog sich in einer großen Epoche der Chirurgie – und vor dem Hintergrund der Höhen (wie der führenden Position des 1871 gegründeten Kaiserreiches in der Wissenschaft und vor allem der Medizin) und der Tiefen der deutschen Geschichte ab. Den Ansatz zu den schlimmsten Tiefen sollte er noch in seinem letzten Lebensjahr miterleben.

Ein Rabbinersohn aus Königsberg: Aus Jakob wird Jacques

Der Vater des Chirurgen, Israel Joseph, war Rabbi der jüdischen Gemeinde zu Königsberg. Seine Frau Sara brachte zwei Söhne zur Welt, den 1863 geborenen David und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Jakob Lewin. Beide Söhne änderten später ihre Vornamen als Ausdruck des Strebens nach Assimilation, ohne dass sie je ihre Wurzeln verleugnet hätten. David nahm den Namen Dagobert an, mit dem man damals vornehmlich einen fränkischen König (und weniger, wie in unserer Zeit, einen fiktiven Millionär) in Verbindung brachte. Jakob romanisierte seinen Namen und nannte sich Jacques.

Seine Heimatstadt Königsberg lag an der Peripherie des deutschen Sprachraumes und war die Krönungsstadt preußischer Könige. Seit dem Wirken der preußischen Reformer in den ersten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts, nach der Niederlage gegen Napoleon, war jüdischen Bürgern eine freie Entfaltung im Wirtschaftsleben ebenso garantiert wie die unbeschränkte Religionsausübung. Der Staat Preußen, später gern als Hort von Reaktion und Militarismus verdammt und anno 1947 von den Alliierten mit einem Federstrich eliminiert, war in dieser Hinsicht fortschrittlicher als andere europäische Länder. Dies galt vor allem im Vergleich zum großen östlichen Nachbarn, dem Zarenreich, in dem Pogrome alles andere als eine Seltenheit waren. Das Klima in Preußen gegenüber jüdischen Mitbürgern war eines relativer Toleranz, wobei der Begriff „relativ“ darauf hinweisen mag, dass dem Liberalismus der Gesetze nicht unbedingt und ausnahmslos eine freisinnige Geisteshaltung in den Köpfen der Menschen folgte. Antisemitische Tendenzen fanden sich zweifellos auch bei manchen Zeitgenossen, beherrschend für das Geistesleben im Lande waren sie jedoch nicht. Aus diesem Klima der weitgehenden Toleranz, in dem der junge Joseph aufwuchs, erklärt sich zweifellos sein Patriotismus. Er war bis auf die letzten ein, zwei Jahre seines Lebens stolz darauf, Deutscher zu sein – Bürger jenes Landes, in dem Preußen fünf Jahre nach seiner Geburt „aufging“, wie es Otto von Bismarck, der überragende Staatsmann des ersten Vierteljahrhunderts in Josephs Leben nannte.

Nach dem Examen arbeitete Joseph zunächst als praktischer Arzt

Nach dem an einem Berliner Gymnasium abgelegten Abitur, damals ein international als vorbildlich angesehener Abschluss einer schulischen Laufbahn, entschloss sich Jacques Joseph der Medizin zuzuwenden. Am 14. April 1885, mit 19 Jahren, immatrikulierte er sich an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin als Student der Humanmedizin. Nach dem Examen arbeitete er zunächst als praktischer Arzt, bevor er Ende 1892 eine Stelle als Assistent an der Orthopädischen Universitätsklinik antrat, die sich unweit des Alexanderplatzes in Berlin befand. Sein Chef war ebenjener Julius Wolff, der ihn dann nach der gelungenen Ohranlegung und -verkleinerung so barsch vor die Kliniktür setzte. Für Jacques Joseph war diese Erfahrung sicher menschlich enttäuschend, wirtschaftliche Sorgen indes hatte er nicht. Bald darauf heiratete er Leonore Cohn, die Tochter eines wohlhabenden Unternehmers, der dem Brautpaar als Morgengabe die für damalige Verhältnisse unvorstellbare Summe von 50 000 Goldmark mit auf den Weg ins junge Glück gab.

Der erste Rhinoplastik-Patient: Ein Gutsbesitzer mit übergroßer Nase

Die ökonomische Sicherheit versetzte Joseph in die Lage, sich auf das Feld der rekonstruktiven Chirurgie des menschlichen Antlitzes zu begeben – was nicht heißt, dass sich dieses nicht letztlich als einträglich erwiesen hätte. Joseph hatte am Fall des kleinen Jungen erkannt, dass eine ungewöhnliche Physiognomie keine Banalität ist; für den Betroffenen konnte (und kann) sie Stigmatisierung, Ausgrenzung oder gar physische Gewalt durch die Mitmenschen bedeuten. 1898 wurde er erstmals mit der Herausforderung konfrontiert, die zu seinem Lebenswerk werden sollte. Das Problem des 28-jährigen Patienten war allzu offensichtlich, es stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Seine Nase hatte eine fast monströse Größe. Der Mann, der das war, was man im Sprachgebrauch der Zeit eine „stattliche Erscheinung“ nannte, trug einen gewaltigen Oberlippenbart, dessen Spitzen nach oben gerollt waren, Ergebnis liebevollen Fingerspiele tagsüber und der Applikation einer Bartcreme samt Bartbinde zur Nacht. Doch auch dieses Schmuckstück von einem Schnauzbart konnte den Blick der Mitmenschen nicht von seinem enormen Riechorgan ablenken. Wie wenige Jahre zuvor bei dem kleinen Jungen hatte Joseph einen Menschen vor sich, den ein ihm von der Natur mitgegebenes anatomisches Detail wahrlich krank machte. Auch dieser Mann litt unter den Reaktionen seiner Mitmenschen auf sein Äußeres, die sein somatisches und soziales Wohlbefinden nachhaltig trübten. Er war Gutsbesitzer und hatte nach der sozialen Rangordnung in Preußen damit eine der angesehensten Stellungen inne. Doch, so erzählte er Jacques Joseph bei ersten Zusammentreffen, die Freude am geselligen Beisammensein mit Gleichgesinnten und -gestellten war ihm in den letzten Jahren zunehmend vergangen, zu sehr deprimierte ihn das Starren, das Getuschel hinter seinem Rücken.

„Ich konnte mich dem Eindrucke nicht entziehen“, so berichtete Joseph später bei einer Zusammenkunft der Berliner Medicinischen Gesellschaft, „dass der übrigens hochintelligente Herr sich in Folge der eigenthümlichen Beschaffenheit seiner Nase sich im Zustande starker psychischer Depression befand. Ich hatte ferner die feste Ueberzeugung, dass dem Patienten auf keine andere Weise geholfen werden könnte, als durch die operative Verkleinerung seiner Nase; und da ich mich seit der ersten Ohrenverkleinerung in Gedanken auch damit beschäftigt hatte, wie man auffallend grosse oder auffallend geformte Nasen unauffällig machen könnte, so erklärte ich mich zur Ausführung der Operation bereit.“

„Die Lebensfreude war ganz außerordentlich erhöht“

Nach Übungen an Leichennasen schritt Joseph bei dem Gutsbesitzer zur Operation. Nach seiner späteren Schilderung vollzog sich der Eingriff in drei Abschnitten: Der Entfernung der für die zukünftige Nase überflüssigen Hautpartien und Verkleinerung der Nasenlöcher, der Abtragung der von ihm als „überflüssig“ eingeschätzten Teile des knöchernen und knorpeligen Nasendaches und schließlich der Verkürzung des Nasenseptums zwecks Hebung der Nasenspitze. Der zweite Teil war der diffizilste: „Zu diesem Zwecke habe ich zunächst die stehengebliebene Haut von den Nasenbeinen und den Cartilagines triangulares etwa einen Centimeter weit abpräpariert. Dann setzte ich den Meissel nacheinander auf beiden Ossa nasalia in der Richtung an, welche die Nase in Zukunft haben sollte und durchtrennte so mit einigen Schlägen die Nasenbeine. In derselben Richtung und Ausdehnung durchmeisselte ich darauf das Septum narium, wodurch ein nach oben offener Spalt entstand. In diesen Spalt setzte ich das Messer ein und trug mit glattem in der Spaltrichtung nach abwärts gerichteten, gleichzeitig durch Septum und Seitenwände der Nase geführten Schnitte auch den unteren Theil des Nasendaches, soweit dasselbe zu stark hervorragte, ab.“

Der Eingriff dauerte insgesamt eine Stunde. Wie damals üblich, blieb der Patient in stationärer Betreuung und die Entlassung erfolgte am 13. postoperativen Tag. Komplikationen stellten sich nicht ein. Die Wundheilung verlief unproblematisch, die zurückbleibenden Narben waren strichförmig, nicht entzündet und weitgehend unauffällig. Joseph, der ungeachtet seiner oft verschlossenen Miene und seines nicht selten barschen Auftretens ein genauer Beobachter der menschlichen Empfindungen war, konnte seinen Kollegen gegenüber seine Genugtuung über die positiven Auswirkungen des Eingriffs auf das seelische Empfinden des Patienten nicht verhehlen: „Von wesentlicher Bedeutung ist der psychische Effect der Operation. Die schwermuthsvolle Stimmung des Patienten ist völlig geschwunden. Er ist froh, nunmehr unbeachtet umhergehen zu können. Dass sich seine Lebensfreude ganz ausserordentlich erhöht hat, ist unter Anderem, wie mir seine Gattin voller Freude mittheilte, daran zu erkennen, dass der Patient, der früher allem gesellschaftlichen Verkehr scheu aus dem Wege ging, nunmehr den Wunsch hat, Gesellschaften zu besuchen und zu geben. Mit einem Wort, er ist glücklich über den Erfolg der Operation.“

Joseph war ein Meister der bildhaften Sprache

In den nächsten Jahren stellte Joseph bei vielen Menschen das seelische Wohlbefinden und die soziale Akzeptanz wieder her. Bald kamen Menschen aus ganz Deutschland, in späteren Jahren aus anderen Ländern nach Berlin, um sich von ihm operieren zu lassen und Joseph ließ die Kollegenschaft bei Fortbildungsveranstaltungen regelmäßig an seinen Erfahrungen teilnehmen. Er war dabei ein Meister der bildhaften Sprache und fand bei jeder Fallbeschreibung höchst anschauliche Worte: Ein 24 Jahre alter Mann „besass eine Nase, die mit einem Entenschnabel eine grosse Aehnlichkeit hatte.“ Eine 19 Jahre junge Frau „hatte eine zu lange und in ihrer unteren Hälfte kolbenartig verdickte Nase.“ Und weiter ging’s: Ein 26-jähriger Ingenieur hatte ein „Hanswurstnase“ (eine Spitznase), eine 38-jährige Frau eine mit einem Höcker behaftete, schaufelförmige Nase, bei einem 25-jährigen Künstler war sie einfach „gross und hässlich geformt.“ Besonders blumig wurde Joseph bei der Vorstellung eines 25-jährigen Offiziers. Dessen Nase nämlich zeichnete sich nach seiner Beurteilung „durch erhebliche Grösse, vor Allem aber durch ihre hässliche, an thierische Verhältnisse erinnernde Form aus. Statt der Spitze hatte sie eine ziemlich große, fast viereckige Platte, welche lebhaft an eine Schweinsnase erinnerte.“

Ob Schweins-, Enten- oder auch Hanswurstnase – Jacques Joseph konnte, wie auch bei späteren Vorträgen und Veröffentlichungen, nur Erfolge vermelden. Gerade in der plastischen Chirurgie ist es unter den medizinischen Disziplinen nicht zum Schaden des Arztes, wenn er über ein gewisses PR-Talent verfügt, das ihn die eigenen Leistungen und die Zufriedenheit seiner Patientinnen und Patienten herausstellen lässt und über eventuelle Misserfolge den Mantel des Schweigens legt. Jacques Josephs Sinn für Eigenpromotion war sicher alles andere als verkümmert. Die erste intranasale Rhinoplastik vollzog er am 18. August 1901. In der Folgezeit verfeinerte er seine Kenntnisse im Umgang mit der Methode, die später die Rhinoplastik mit Inzision ab externo allmählich aus seinem operativen Repertoire verdrängte. Im Sommer 1904 konnte er auf insgesamt 43 Rhinoplastiken zurückblicken. Von nun an expandierte die rhinoplastische Praxis rasant. Als er im November 1906 abermals vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft sprach, lag seinen Ausführungen ein Erfahrungsschatz von 210 operativen Nasenverkleinerungen zugrunde. Neben dem intranasalen Zugang war die inzwischen fast ausnahmslose Anwendung der lokalen Betäubung ein weiterer Fortschritt. Dadurch war Joseph nun in seinen Operationsplanungen vom Anästhesisten unabhängig und brauchte keine Narkosezwischenfälle zu befürchten.

Ein operativer Eingriff als „Eintrittsbillett“ in die bürgerliche Gesellschaft

Jüdische Mitbürger stellten einen beträchtlichen Anteil an Josephs Patientenkollektiv und der Drang, das eigene Aussehen zu verändern, zeigt deutlich, wie weit sich viele Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe von einer wirklichen Integration in die deutsche Gesellschaft entfernt wähnten. Immer wieder traten Menschen jüdischer Abstammung mit dem Wunsch an Joseph heran, die angeblich „jüdische Nase“ zu verkleinern oder in ihrer Formgebung zu verändern. Die Verkleinerung und gegebenenfalls auch die Begradigung der Nase wurde von den Patienten als ein Mittel erachtet, um ein tatsächliches oder vermeintliches „Anderssein“ abzulegen, ein physiologisches und physiognomisches Merkmal, das nach eigener Einschätzung oder der Beurteilung der Mitbürger auf die eigene Herkunft verwies, der man sich nicht schämte, die jedoch auch nicht zu offensichtlich, dem Betreffenden nicht regelrecht ins Gesicht geschrieben sein durfte. Das Bestreben, sich durch die Errungenschaften der plastischen Chirurgie einem Idealtypus anzugleichen, Diskriminierungen durch die Veränderung des eigenen Aussehens vermeiden zu wollen, war nicht auf Deutschland und Europa beschränkt. In den Vereinigten Staaten, einem traditionell integrativen Land mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, waren Rhinoplastiken bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Mittel, um nicht „zu jüdisch“ auszusehen. Nicht selten war die Kostenübernahme für den Eingriff ein Geschenk nachdenklicher Eltern zum 16. Geburtstag einer Tochter oder zur Feier ihrer Bat Mitzvah, dem großen Festtag des Erreichens der religiösen Volljährigkeit.

Der „Große Krieg“ macht zahlreiche Gesichtsrekonstruktionen notwendig

Joseph verstand sich als deutscher Patriot und stellte dies im Ersten Weltkrieg unter Beweis, als er zahlreichen Verletzten und Verstümmelten ein neues Antlitz und damit die Aussicht auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben nach Ende dieser „Urkata­strophe des 20. Jahrhunderts“ gab. Jacques Joseph muss sich in jenen düsteren Jahren selbst übertroffen haben – nicht nur, was die Zahl der Patienten anbelangt, sondern auch in der Innovation immer neuer Methoden, um die teilweise grausigen Defekte zu decken. Es gab kaum einen Defekt im Gesichtsbereich, den er nicht zu decken versuchte. In vielen Fällen gelangen ihm – gemessen am grausigen, in der Regel von ihm fotografierten Ausgangsbefund – beeindruckende Ergebnisse. Er gab den Unglücklichen nicht nur eine weitgehend normale Funktion von Nase, Lippen, Kiefer oder Augenadnexe zurück, sondern Selbstwertgefühl und Lebenswille. Der Kontrast zwischen den entsetzlichen Entstellungen und dem menschenwürdigen Ergebnis der Operation und der Nachbetreuung macht verständlich, warum Jacques Joseph in den Augen vieler Patienten beinahe Heiligenstatus hatte und nicht wenige der von ihm Operierten ihm lebenslange Dankbarkeit bewahrten.

Es gab nicht allzu viele Jacques Josephs in jenen Jahren, die den fazial Verstümmelten wirklich kompetente Hilfe hätten anbieten können. In Großbritannien wirkte der schon erwähnte Sir Harold Gillies, in Frankreich Hippolyte Morestin, im österreich-ungarischen Kaiserreich Johann Friedrich Esser – eine Handvoll Pioniere der plastischen Gesichtschirurgie, die überwältigt wurden von der schier unfassbaren Zahl der Patienten. Auf die exzellente Arbeit Josephs, der seine Tätigkeit an den verletzten Soldaten als selbstverständlich für einen deutschen Patrioten betrachtete, wurde schließlich auch die Regierung aufmerksam. Die Kunde von dem bewundernswerten Einsatz des Chirurgen hatte inzwischen sogar das Ohr von Allerhöchstdemselben erreicht – Kaiser Wilhelms II. Der Mann, der einst erklärt hatte, er werde Deutschland glänzenden Zeiten entgegen führen und dem im Verlaufe des Krieges die Macht immer mehr aus den Händen glitt, bot Jacques Joseph 1915 eine Professur für Plastische Chirurgie an der Charité an. Ein ehrenwertes Angebot, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Joseph nicht habilitiert war und damit die in Deutschland geradezu heilige Voraussetzung für die Verleihung des so ungemein prestigeträchtigen Professorentitels eigentlich nicht vorlag. Majestäts Bedingung war allerdings weniger nobel: Joseph sollte als „Gegenleistung“ zum Christentum übertreten. Des Chirurgen, der 1916 Leiter der neugegründeten Spezialabteilung für Plastische Gesichtschirurgie an der Charité in Berlin wurde, Antwort war ein kurzes und bündiges „Nein“.

Wohlstand und internationales Renommee in den (wenigen) goldenen Jahren der Weimarer Republik

In den 1920er Jahren erlebte er, nunmehr in Privatpraxis operierend, den Höhepunkt seiner Karriere. Sein Ruf war inzwischen ein internationaler und die oft sehr wohlbetuchte Patienten­klientel machte Joseph, der den Professorentitel 1919 vom Ministerium der Weimarer Republik und ohne Bedingungen verliehen bekommen hatte, zu einem reichen Mann. In Wilmersdorf erbaute er sich eine prächtige Villa, die später im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Die ganze Erfahrung seines Chirurgenlebens fasste er in einem opulenten Werk zusammen, das von 1928 bis 1931 in drei Bänden erschienene Opus „Nasenplastik und sonstige Gesichtsplastik nebst einem Anhang über Mammaplastik und einige weitere Operationen aus dem Gebiete der äusseren Körperplastik“. Zum ersten Teil schrieb Jacques Joseph ein paar einleitende Worte als Vorwort, die angesichts der Erinnerungen mancher seiner Schüler an den schweigsamen, bärbeißigen Mann wie ein Ausdruck einer feinsinnigen, augenzwinkernden Ironie erscheinen: „Das vorliegende Werk verdankt seine Entstehung der Anregung der zahlreichen Kollegen des In- und Auslandes, welche meinen plastischen Operationen beiwohnten und den lebhaften Wunsch äußerten, ich solle meine Methoden im Zusammenhang darstellen.“ Zwischen den Zeilen könnte man lesen: Da ich Euch weder vor, während noch nach dem Operieren mehr erklärt habe als unbedingt nötig, macht der Kauf des Werkes für Euch wirklich Sinn.

Das Buch wurde ein Jahrhundertwerk für Josephs operative Disziplin. Viele Jahre nach seinem Tod zahlten Liebhaber ungeahnte Preise für ein Exemplar aus der Auflage von 1931. Im Jahr 2004 erschien im Heidelberger Kaden Verlag ein limitierter, numerierter reprographischer Nachdruck der Luxusausgabe dieses Klassikers [1].

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begannen die Hetze und die Verfolgung jüdischer Mitbürger

Die politischen Lebensumstände Jacques Josephs in seinen letzten ein, zwei Jahren waren von Finsternis geprägt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 begannen die Hetze und die Verfolgung jüdischer Mitbürger, auch jüdischer Ärzte. Auch Jacques Joseph war „abgeholt“, verhört und bedroht worden, ob er auch physischer Gewalt ausgesetzt gewesen ist, kann nur vermutet werden. Doch auch die psychische Belastung einer Existenz unter dem Damoklesschwert eines immer rabiater werdenden Rassenhasses setzte ihm zu. Er litt unter Dyspnoe und hatte sein Operationsprogramm deutlich reduziert, aus gesundheitlichen Gründen und auch, weil er nicht-jüdische Patienten nur noch nach der entwürdigenden Beantragung einer Sondergenehmigung operieren durfte. Er kam später als gewöhnlich in die Klinik, machte längere Spaziergänge durch den Grunewald, düsteren Gedanken nachhängend. Er hat möglicherweise geahnt, wie eng das Netz war, das die Machthaber um ihn zogen. Seine Sekretärin, der er das Manuskript für die „Nasenplastik“ in die Feder bzw. in die Schreibmaschine diktiert hatte, bespitzelte ihn ihm Auftrag der Gestapo.

Am 12. Februar 1934 wollte Jacques Joseph sich wie so häufig in den vielen Jahren ärztlicher Tätigkeit in seine Privatklinik begeben. An diesem Morgen ereilte ihn der Tod. Als Ursache wurde Herzversagen angegeben. Die Möglichkeit, dass Jacques Joseph mit Gift seinem Leben ein Ende gesetzt haben könnte, wurde in Erwägung gezogen, einen Beweis dafür gibt es indes nicht. Todesanzeigen der Familie erschienen am nächsten Tag in mehreren Berliner Zeitungen. Die deutschen medizinischen Fachzeitschriften erwähnten den Heimgang eines der berühmtesten Chirurgen des Landes mit keinem Wort – auch die Wissenschaft war längst gleichgeschaltet.

Die letzte Ruhestätte Josephs wurde erst 2003 wiederentdeckt und Stück für Stück rekonstruiert

Den Zerstörungen des Krieges fiel auch die letzte Ruhestätte von Jacques Joseph auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee zum Opfer. Doch in Berlin und bei vielen Fachkollegen war der große Chirurg unvergessen. Ein Berliner Arzt, Professor Walter Briedigkeit, ließ in seinen beharrlichen Bemühungen, das Grab Josephs zu finden, nicht locker. Der Lohn der Suche auf dem weitgehend überwucherten Grundstück in Weißensee wurde Briedigkeit im August 2003 zuteil, als er den überwachsenen und beschädigten Grabstein fand. Dank der Spenden von Privatpersonen und Fachgesellschaften wurden Grabstätte und Stein exakt rekonstruiert. Jacques Joseph ist damit endlich ein ehrendes Gedenken in seinem geliebten Berlin zuteil geworden.

Literatur

1. Joseph J (1931/2004) Nasenplastik und sonstige Gesichtsplastik, nebst einem Anhang über Mammaplastik. XXXI, 842 Seiten, erweitert durch 4 Seiten Anhang mit einem Kurzporträt des Autors. Mit 1717 teils farbigen Abb., Halbleder mit Rückentitel und Rückenvergoldung. Verlag von C. Kabitzsch, Leipzig, 1931. Limitierter, numerierter, reprographischer Neudruck. Kaden Verlag, Heidelberg 2004 [ISBN 978-3-922777-69-4]

2. Gerste RD (2015) Jacques Joseph – das Schicksal des großen plastischen Chirurgen und die Geschichte der Rhinoplastik. Kaden Verlag, Heidelberg

Sammlung von Josephs Original-Instrumenten. Er ließ auf jedem der von ihm entwickelten Instrumente eine Gravur „Prof. Joseph“ anbringen.

 

Joseph mit Krankenschwestern im Operationssaal bei einer Rhinoplastik.

 

Laura, Jacques und Bella bei einem ihrer Aufenthalte im Hotel Pupp im tschechischen Karlsbad

 

Gäste treffen in Josephs Villa ein. Bemerkenswert sind Josephs Initialen „JJ“ in der Mitte des runden Fensters über dem Eingang

 

Der wiedererrichtete Grabstein Jacques Josephs wurde 2004 enthüllt und von dem Rabbiner Dr. A. Nachama geweiht.